Amras by Thomas Bernhard

Amras by Thomas Bernhard

Author:Thomas Bernhard [Bernhard, Thomas]
Language: deu
Format: epub
Publisher: Suhrkamp
Published: 2012-05-24T22:00:00+00:00


An Hollhof

Geehrter Herr, als sich mein Walter im Wartezimmer beruhigt hatte, dachte ich an den von mir an demselben Mittag, zwei Stunden vor unserem Internistenbesuch unternommenen Spaziergang zum Zirkus hinunter, zu den Sillhöfen, Tantegert usf… . Ich war mit mehreren von mir am Vormittag geschriebenen Briefen fortgegangen, den ersten Briefen nach langer Zeit … in ihnen bedankte ich mich für die zahllosen Zuschriften, die wir bekommen hatten … Mich vor der Zutraulichkeit der mir bekannten Internistenbesucher schützend, deren Aufmerksamkeit wir fast ständig erregten, beobachtete ich, wie die Fliegen die süße Patientenausdünstung von den Wänden schleckten … Mir eine vor uns eingetretene Person, ein, das machte den Anblick so traurig, noch nicht einmal schulentlassenes, aber schon vom Trübsinn der Fraulichkeit angefallenes Mädchen, stumm vor sich hingrübelnd, mit einem vier oder fünf Quadratzentimeter großen Parkettbodenausschnitt beschäftigt, wahrscheinlich aber weit fort in einer Verlassenheit, mit einer Verlassenschaft ratlos beschäftigt, einprägend, ging ich, dem in der letzten Zeit (die überall, wo sich nur denken läßt, nur auf Zerstörung und Tod aus gewesen ist – unsere ängstliche, furchtsame Welt ist nicht mehr imstande gewesen, die Zeit und ihr Räderwerk zu hintergehen … wo wir hinschauten, scheiterte sie, überall und in allem und jedem, in den Städten wie auf dem Land, in dieser Zeit, die die Menschen am liebsten, wäre das möglich, über so lange Strecken von Trostlosigkeit hätten verschlafen wollen), ging ich, dem in den Wochen nach unserer Katastrophe, vor Walters Tod, nichts verdrießlicher und nichts schwerer geworden war als zu atmen, der wochenlang, wenn schlaflos, immer gezwungen war, jeden Atemzug seiner Lungen zu registrieren, und dem seine Atemzüge geräuschvoller vorgekommen, unerlaubter gewesen sind als die Atemzüge der andern, als alle unbewußten, alle unbewußten Atemzüge der Jugend und der Gesundheit … an die nur mir eigene, von mir geradezu mit wunderbarer Erschütterung vorgenommene Rekonstruktion des sich mir nur noch entziehenden Nachmittags … ich ging, während ich die Patienten durchschaute, in einer Entfernung von fünfzehn, von zwanzig Metern, durch mich klug abgesondert von allen andern, mit Schritten und mit Gedanken haushaltend, so, wie ich es immer geliebt habe, allein mit mir selbst auf der von mir nun schon ein halbes Jahr nicht mehr begangenen Straße, die aus den Gärten von Amras nach Wilten führt … gelenkt von Geräuschen und Farben … ein plötzlich nur noch auf Abschied und Tod eingestellter Mensch, noch nicht zwanzig, nach vorwärts zögernd, nach rückwärts staunend, mit dem sich gegen die Erschütterungen und Enttäuschungen erfolglos wehrenden Hang zur Fürsorglichkeit, in der Gewißheit, mit Walter zugrunde gehen zu müssen … Ich gehe, sagte ich mir, auf das Postamt … ich gehe, während mich Walter, von dem bevorstehenden Arztbesuch angegriffen, vom Turmfenster aus beobachtet, so lange beobachtet, bis er mich nur noch durch die Kraft seiner Phantasie beobachten kann … Ich gehe unter der Glasglocke unserer Empfindungen … sinnloser Versuch, aus der Hoffnungslosigkeit rasch herauszukommen … mit meinem an der Finsternis geschulten, an die Finsternis geschweißten Kopf, aus einem Extrem in das andere … Konflikte … immerfort in die Tiefe durch Tiefe, gelenkt von



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